Das erste Mal ist bekanntlich das aufregendste. Auch bei uns. Wir laufen nichts ahnend und unwissend durch den Binninger Wald. Was macht der Stein da auf dem Boden? Eine irritierende Frage im Wald, gehören Steine schliesslich auf den Waldboden wie Blätter an den Baum. Also noch mal: Was macht der bunt angemalte Stein da auf dem Boden?
Zu unserer Verteidigung: Wir sind frisch zugezogen und zum ersten Mal im Binninger Wald, daher blutige Anfänger in Sachen «bunte Steine finden und posten». Überrascht und erstaunt halten wir also unseren Fund in der Hand. Wahrscheinlich hat ihn ein Kind verloren. Wir legen ihn wieder hin. Spazieren weiter. Entdecken drei weitere Steine, die wir einem Kindergeburtstag oder einer Schnitzeljagd zuordnen. Bis wir von einer steinsammelnden Dame aufgeklärt werden. Tatsächlich sind die bunten Steine zum Mitnehmen gedacht, bestenfalls postet man sie im Internet, um Arbeit und Absicht zu honorieren. Wer Lust hat, bemalt selbst einen Stein und legt ihn in den Wald. Oberstes Ziel: jemandem eine Freude machen. Selbstlos und ohne Gegenwert. Freude und Wohlwollen als Eintrittskarte in eine Gemeinschaft von Steinmalern und -sammlern. Wir wollen auch dazugehören, sind berührt und verzaubert von dieser Idee.
Sammeln und zeigen
Die grösste Plattform zum Posten der Steine ist «CH rocks – Original». Gegründet haben sie vor knapp zwei Jahren Evelyn und Stefan Truttmann, nachdem sie in Florida auf diese ihnen bis dahin unbekannte Leidenschaft der Einwohner gestossen und sofort vom Virus des «Rockens» (Englisch für Steine bemalen und verstecken) erfasst worden sind. Kurze Zeit später haben sie die Facebook-Seite CH rocks – Original gegründet und damit in der Schweiz einen Nerv getroffen. «Dieses weltumspannende Hobby vereint ganz vieles: Man geht in die Natur, sucht Steine, die man wäscht, bemalt und wieder ‹auswildert›. Oder man freut sich einfach an einem gefundenen Stein», schwärmt Evelyn. «Für viele ist das Hobby mit den sozialen Medien verbunden, das ist aber absolut nicht zwingend. Man kann auf Facebook die eigenen Werke verfolgen und an der Freude teilhaben, wenn Steine gefunden werden.» Wie bei jeder Gemeinschaft trifft man auch hier auf Gleichgesinnte, kommt ins Gespräch, online oder auch direkt im Wald bzw. am Fundort. Der kann nämlich auch mitten in der Stadt liegen. Weiterer Vorteil: Das Hobby hat keinen zeitlichen und räumlichen Rahmen. Es kann jederzeit ausgeübt werden, bei jedem Wetter. Kein Wunder, hat die Schweiz also das Rockfieber gepackt. Die stummen Botschafter finden sich mittlerweile im ganzen Land. Und richten sich – bewusst oder unbewusst – auch gegen unsere von Konsum- und Kommerzialisierung beherrschte Welt.
«Wir möchten bunt bemalte Steine in die Welt hinaustragen. Diese sollen unerwartet Freude verbreiten. Ein Lächeln des Finders soll der absolut einzige ‹Lohn› sein.»
Evelyn Truttmann, CH rocks – Original
Vorsicht: Suchtpotenzial!
Auch wir sind angesteckt. In übertriebener Manier suchen wir die Umgebung nur noch nach Steinen ab und vergessen Eichhörnchen, Vögel, Reptilien, Insekten, Riesenschnecken, Bären, Löwen und Einhörner. Als der 7-jährige Junior einen Stein entdeckt, ist die Freude gross. Wir sind sofort von der Magie dieser Aktion erfasst. Auf der Rückseite des Steines sehen wir zwei Figuren – eine grosse und eine kleine –, die Händchen halten. Als sollten wir genau diesen Stein gefunden haben. Oder hat der Stein uns gefunden? Wir möchten den kleinen oder grossen Steinmaler honorieren und finden einen Bekannten, der ihn postet, da wir selber keinen Facebook-Account haben. Als Nächstes möchten auch wir einen Stein bemalen, stolpern aber über unsere Unkreativität. Je mehr wir allerdings darüber nachdenken, desto mehr Ideen fallen uns ein. «Nur wenige malen ‹frei Schnauze›», so Evelyn. «Unsere krassesten Künstler haben mit sehr einfachen Steinen gestartet und sich weiterentwickelt. Inspiration holen viele im Internet, z. B. auf Pinterest oder aus anderen Steingruppen. Auch Spruchsteine sind ein fester Bestandteil. Von Motivationssprüchen bis zu witzigen Ansagen ist alles dabei.» Das bekräftigt uns. Die Frau muss es wissen, schliesslich werden täglich Hunderte von Steinen auf der Facebook-Seite veröffentlicht. Bis heute haben Evelyn und Stefan Truttmann selbst weit über 3500 Steine bemalt. Ein Ende ist nicht in Sicht, und auch die Mitgliederanzahl wächst stetig. Tatsächlich macht es auch einfach Spass, die kleinen Kunstwerke anzuschauen und zu staunen, was aus einem simplen Stein gemacht werden kann. Doch wo immer sich Talente tummeln, möchten andere von diesen Talenten profitieren. «Einige Mitglieder auf CH rocks wurden zigfach um Steine angebettelt und mit persönlichen Nachrichten überschüttet», erzählt Stefan. «Um diese Mitglieder zu schützen, mussten wir Regeln einführen. Wir wollen weder Marktplatz, Tauschbörse, Bastelseite oder Diskussionsforum sein.» So ganz abschütteln lässt sich der Konsumgedanke bei einigen wohl nicht. Da braucht es noch viele weitere Steine als Botschafter. Dominique Simonnot