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Heilung per Fingerdruck

Shiatsu ist eine asiatische Form der manuellen Körperarbeit, die für viele Leiden eine Lösung verspricht. Unsere Redaktorin wollte mehr über diesen ganzheitlichen Ansatz erfahren und fand ihren Meister.

Heilung per Fingerdruck

Bild: dom

Mein Bein wirkt plötzlich einen halben Meter länger als das andere. Ein seltsames Gefühl, das mich zum Schmunzeln bringt. «Stress führt zu Kontraktionen der Muskulatur bis in die Fussspitzen», erklärt mir anschliessend der Mensch, der dafür verantwortlich ist: Shiatsu-Therapeut Till Zehnder. «Durch spezielle Shiatsu-Techniken dehne ich Faszien (Bindegewebe) und Muskulatur, das fühlt sich dann manchmal an, als wären Arme oder Beine deutlich länger. » Der Name Shiatsu kommt aus dem Japanischen und bedeutet Fingerdruck. Das Wort ist Programm, der Druck wird senkrecht und stabil durch den Einsatz des Körpergewichts mit Händen, Daumen, Fingern, Ellbogen, Knien und Füssen ausgeübt. Meridiane und Punkte werden stimuliert, wobei je nach energetischer Verfassung des Behandelten die Drucktechnik, die Stärke und Intensität der Stimulation variieren. Bei Till Zehnder liegt man dabei auf einem grossen Futon. Behandelt wird angezogen, weshalb die Kleidung gemütlich sein sollte, ohne Knöpfe oder störende Reissverschlüsse. «Das ist wichtig, weil beim Shiatsu Strukturen (welche teilweise sehr, sehr tief liegen) mittels Massage und Dehnung gelöst werden. Das ist mit Jeans nicht angenehm und auch nicht immer möglich.» Für seine Klienten hat Till daher immer weite Hosen und warme Pullis parat. Der gebürtige Basler beschäftigt sich seit etwa 20 Jahren mit Shiatsu. Gerade hat er die Höhere Fachprüfung zum diplomierten Komplementärtherapeuten bestanden. Seine Shiatsu-Ausbildung hat er bereits 2010 an der International School of Shiatsu in Bern (Kiental) gemacht.

«Oft ist das Grundproblem ein anderes, als das Leiden vermuten lässt, die Selbstwahrnehmung des Kunden oft eine andere, als ich wahrnehme.»

Till Zehnder, Shiatsu-Therapeut

Östliche Tradition mit westlichem Ansatz

Die Ausbildung in Bern richtet sich einerseits an der traditionellen fernöstlichen Shiatsu-Therapie aus, an den Meridianen und der Lehre von den 5 Elementen – ähnlich wie bei der Akupunktur. Kombiniert wird sie mit faszialen Techniken wie z. B. bei der Osteopathie. Darüber hinaus werden die angehenden Therapeuten zu intuitivem Behandeln motiviert, was mehr Platz für Individualität lässt. «Der westliche Ansatz begreift sich eher als komplementärtherapeutisch und ist klientenorientierter», erklärt uns Till. «Das hat sicher auch damit zu tun, dass die Menschen hier anders funktionieren. Wir leben in einer individualistischeren Gesellschaft als in Japan oder China. Daher wird der Kunde bei uns aktiv mit einbezogen, da er die Verantwortung über seine Gesundheit übernehmen soll. Die anfängliche Anamnese ist ein wichtiger Teil.» Klingt logisch und ist bereits aus anderen ganzheitlichen Ansätzen bekannt. Der Austausch zwischen Therapeut und Klient schafft Vertrauen und lässt Zusammenhänge erkennen, warum der Energiefluss ins Stocken geraten ist. «Schliesslich geht es darum, ganzheitlich die Verbindungen zu verstehen und das Leiden einzuordnen », so Till, der schon als Masseur im Hilton gearbeitet hat. 2014 hat er seinen Abschluss in Soziokultureller Animation gemacht, um mehr über die zwischenmenschlichen Zusammenhänge und Gestaltungsmöglichkeiten zu erfahren und zu erlernen. Das hat sicher auch Vorteile bei seiner Arbeit als Shiatsu-Therapeut.

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Till Zehnder bei der Mobilisation des Beckens und des unteren Rückens. Bilder: Sven Weitzel
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Faziale Dehnung des Nackens.

Hilfe zur Selbsthilfe

Ganz beiläufig stellt er auch in den nächsten Sitzungen immer wieder Fragen. «Oft ist das Grundproblem ein anderes, als das Leiden vermuten lässt, die Selbstwahrnehmung des Kunden oft eine andere, als ich wahrnehme», weiss Till. «So können Schulterverspannungen erst mal auf ein Haltungsproblem schliessen lassen, verstärkt vielleicht durch einen unergonomischen Arbeitsplatz im Homeoffice. Bei näherer Betrachtung stellt sich vielleicht raus, dass das Haltungsproblem viel tiefer in der Psyche zu suchen ist. Vielleicht hat man die Haltung angenommen, um schnell zu springen, immer auf Abruf zu stehen. Dann muss der Umgang mit Druck und Stress geändert werden.» Eine Herausforderung unserer Zeit. 80% seiner Klienten sind Frauen mit teilweise sehr starken körperlichen Schmerzen, welche durch Spannungen hervorgerufen werden. Viele mit Bandscheibenvorfällen, regelmässigen Kopfschmerzen, Migräne, Schulter- und Rückenschmerzen. Oft steckt tatsächlich Stress dahinter. Während der Sitzung geht es dann erst mal darum, ein positives Erlebnis zu schaffen, den Klienten von einem verkrampften Zustand in einen entspannten zu bringen. In einem zweiten Schritt geht es dann darum, einen anderen Umgang mit Druck und Stress zu finden.

Mehr als Reparaturarbeiten

«Meistens braucht es drei bis vier Sitzungen, die tiefer liegende Hauptursache zu erkennen.» Mit seiner offenen und einfühlsamen Art vermittelt Till dabei schnell den Eindruck, gut aufgehoben zu sein. Man vergisst, dass man eigentlich zu Therapiezwecken da ist. Vielleicht liegt es aber auch an der stilvoll eingerichteten Praxis, die eher wie eine Mischung aus Wohnzimmer, Küche und asiatischem Seminarraum wirkt. Einzig der Futon und einige Bücher weisen darauf hin, dass hier «behandelt» wird. Die vertraute Atmosphäre vereinfacht es, sich fallen und den Alltag hinter sich zu lassen. Allerdings ist die Behandlung nicht immer nur sanft, wie ich bereits bei der ersten Sitzung feststelle. Ich bin anscheinend so verspannt, dass die Spannungen teilweise nur mit Schmerz, der aber gleichzeitig auch befreiend wirkt, gelöst werden können. «Gehärtetes Bindegewebe ist schmerzempfindlich», erklärt mir Till. Ich weiss jetzt, warum ich vorher auf einer Skala von 1 bis 10 meine Schmerzempfindlichkeit angeben musste. Nach der Sitzung fühle ich mich allerdings so entspannt, dass ich dankbar bin um jede Minute, die ich noch auf der Matte liegen bleiben soll. Mein unruhiger Geist scheint besänftigt, meine Spannungen aufgelöst. Mein Körper viel präsenter. Ein Zustand, der schwer zu beschreiben ist, wenn man ihn schon lange nicht mehr gespürt hat. Beim abschliessenden Tee fühlt Till noch kurz nach und gibt mir ein paar Tipps, wie ich im Alltag meine Bewegungen und damit meine Haltung verbessern kann. Damit fängt dann wohl mein Teil der Arbeit an. Dominique Simonnot

www.strukturarbeit.ch

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