Sie sind an der Hochschule für Technik der FHNW verantwortlich für Nachwuchsförderung. Warum braucht es überhaupt Nachwuchsförderung?Christine Enggist: In technischen Branchen gibt es seit einigen Jahren einen Fachkräftemangel. Gleichzeitig entstehen laufend neue, spannende Berufsfelder im MINT-Bereich. Die Ursache dafür liegt in erster Linie darin, dass sich durch die Digitalisierung und Technologisierung unserer Lebenswelt die Struktur des Arbeitsmarktes wandelt. Entsprechende Berufsleute und Fachkräfte sind also sehr gefragt.
Die in der Schweiz aber fehlen.
Das Ziel ist es einerseits in der Tat, dem generellen Fachkräftemangel entgegenzuwirken und andererseits für mehr Diversität in technischen Branchen zu sorgen. Besonders Frauen sind traditionsgemäss in diesen Berufen stark untervertreten. Dabei wäre die weibliche Perspektive in der Forschung und Entwicklung sehr gefragt. Bei den Frauen liegt ein riesiges Potenzial brach.
Bei Mädchen stehen technische Berufe nach wie vor nicht oben auf der Wunschliste.
Dass sich Mädchen, die sich für MINT-Themen interessieren, später nicht für eine entsprechende Berufsrichtung entscheiden, hängt mit ihrer Sozialisation zusammen. Technische Kompetenzen werden noch immer den Männern zugeschrieben. Untersuchungen zeigen, dass Teenagerinnen glauben, für MINT-Fächer weniger geeignet zu sein. Obwohl dieses Vorurteil neurologisch widerlegt ist. Den Mädchen und jungen Frauen fehlen ausserdem die weiblichen Vorbilder. Es ist auch nicht «jederfraus» Sache, als Exotin in die Berufswelt einzusteigen. Die Sorge, sich als Frau besonders «beweisen» zu müssen, kann abschrecken.
«Untersuchungen zeigen, dass Teenagerinnen glauben, für MINT. Fächer weniger geeignet zu sein. Obwohl dieses Vorurteil neurologisch widerlegt ist.»
Christine Enggist
Tut sich also gesellschaftlich zu wenig?
Zum Glück ist die gesellschaftliche Entwicklung in Bezug auf die Sozialisierung von Mädchen und Buben positiv. Insbesondere die Schule schafft ein Umfeld, in dem Mädchen und Jungs ihre Interessen und Talente gleichberechtigt entfalten können.
Könnte es auch sein, dass das Arbeitsumfeld bei technischen Berufen schlicht zu wenig attraktiv ist?
Im Gegenteil. Technische Berufe sind äusserst zukunftsfähig und die Jobaussichten ausgezeichnet. Sicher gibt es Nachholbedarf, etwa bei Teilzeitarbeit. Aber auch diese Entwicklung geht in eine positive Richtung. In der Informatikbranche ist Teilzeitarbeit heute verbreitet.
Mit welchen Massnahmen wird an der FHNW weiblicher Nachwuchs gefördert?
An unserer Hochschule haben wir bereits vor Jahren mit iCompetence ein Studienangebot lanciert, das Informatik mit Design und Management verbindet und so auch auf inhaltliche Komponenten setzt, die bei Frauen beliebt sind. So ist der Frauenanteil bei gut 30 Prozent, was signifikant höher ist als in einem durchschnittlichen Ingenieurstudium.
Wo setzt die FHNW ausserdem an?
Wir zeigen auf, was in MINT-Berufen heute gemacht wird. Was eine Detailhändlerin oder ein Pflegefachmann in ihrem Berufsalltag tun, können wir uns alle einigermassen vorstellen. Womit sich eine Nanotechnikerin oder ein Bioinformatiker beschäftigt, ist hingegen vielen Kindern nicht so klar. Bei unseren Angeboten legen die Kinder selbst Hand an und kommen in Kontakt mit echten Vorbildern. Unsere Workshops werden immer von Studierenden und Mitarbeitenden der Fachhochschule geleitet. Es geht uns aber nicht nur darum, künftige Studierende zu gewinnen. Wir möchten einfach möglichst vielen Kindern die Möglichkeit geben, ihr Interesse und ihre Talente im MINT-Bereich zu entdecken.
Sprechen Sie junge Frauen anders an?
Ja, wir sprechen sie ganz direkt an. Wir organisieren etwa Workshops, die sich explizit an Mädchen richten. Diese sind nicht etwa «rosaroter», die Mädchen sind aber unter sich. Bei diesen praxisnahen Aktivitäten erleben die Mädchen, dass nebst technischem Verständnis auch viel Kreativität, Lösungsfindungskompetenz und Kommunikationsfähigkeit gefragt sind. Und dass MINT in allen unseren Lebensbereichen eine Rolle spielt. Zudem machen wir weibliche Vorbilder, sogenannte «Role Models», sichtbar, indem wir Frauen als Workshop-Leiterinnen gewinnen. So erleben Mädchen die weiblichen Leiterinnen selbstverständlich als kompetente Fachfrauen.
In dieser Ausgabe porträtieren wir die Elektrotechnikerin Jenny Meier, die einen smarten Blindenstock entwickelt hat. Sie ist also immer noch die Ausnahme.
Ja, das ist sie. Um den smarten Blindenstock entwickeln zu können, waren nebst technischem Know-how auch soziale Kompetenzen, empathische Fähigkeiten, Problemlösefähigkeiten etc. nötig. Eigenschaften, mit denen Frauen sich oft auszeichnen. Dass diese Fähigkeiten in der Technologie auch gefragt sind, ist vielen noch zu wenig bewusst.
Ihr Tipp an junge Frauen, die in der Schule gute Noten in Mathematik, Chemie oder Physik haben?
Künftige Innovationen werden entscheiden, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft entwickelt. Wenn ihr eure Ideen und eure weibliche Perspektive einbringt, ist das ein grosser Mehrwert für uns alle. Ihr werdet gebraucht. Noch wichtiger scheint mir jedoch ein Rat an das Umfeld der jungen Frauen: Wer einen unkonventionellen Weg einschlägt, braucht besonders viel Bestärkung. Interview: Tiziana Ossola